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Die doppelte Ausrufung der Republik

9. Novemer 1918

Proklamation Philipp Scheidemanns

Proklamation Karl Liebknechts

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Beim Mittagessen im Speisesaal des Reichstagsgebäudes erfuhr der MSPD-Politiker Philipp Scheidemann, seit dem 3. Oktober Staatssekretär unter Max von Baden und einer der ersten Sozialdemokraten mit einem Regierungsamt in Deutschland, dass Karl Liebknecht in Kürze die Räterepublik ausrufen wolle. Wollte die SPD die Initiative behalten, musste sie ihren Gegnern auf der Linken zuvorkommen. Daher trat Scheidemann kurz nach 14 Uhr auf einen der Westbalkone des Reichstagsgebäudes und rief seinerseits die Republik aus. Der österreichische Journalist Ernst Friedegg, der die Rede stenographisch aufgezeichnet hatte, veröffentlichte sie 1919 im Deutschen Revolutionsalmanach mit einem etwas anderen Wortlaut: „Das deutsche Volk hat auf der ganzen Linie gesiegt. Das alte Morsche ist zusammengebrochen; der Militarismus ist erledigt! Die Hohenzollern haben abgedankt! Es lebe die deutsche Republik! Der Abgeordnete Ebert ist zum Reichskanzler ausgerufen worden. Ebert ist damit beauftragt worden, eine neue Regierung zusammenzustellen. Dieser Regierung werden alle sozialistischen Parteien angehören. Jetzt besteht unsere Aufgabe darin, diesen glänzenden Sieg, diesen vollen Sieg des deutschen Volkes nicht beschmutzen zu lassen und deshalb bitte ich Sie, sorgen Sie dafür, daß keine Störung der Sicherheit eintrete! Wir müssen stolz sein können in alle Zukunft auf diesen Tag! Nichts darf existieren, was man uns später wird vorwerfen können! Ruhe, Ordnung und Sicherheit ist das, was wir jetzt brauchen! Dem Oberkommandierenden in den Marken Alexander von Linsingen und dem Kriegsminister Schëuch werden je ein Beauftragter beigegeben. Der Abgeordnete Genosse Göhre wird alle Verordnungen des Kriegsministers Schëuch gegenzeichnen. Also gilt von jetzt ab, die Verfügungen, die unterzeichnet sind von Ebert, und die Kundmachungen, die gezeichnet sind mit den Namen Göhre und Schëuch, zu respektieren. Sorgen Sie dafür, daß die neue deutsche Republik, die wir errichten werden, nicht durch irgendetwas gefährdet werde. Es lebe die deutsche Republik.“ Starke Abweichungen von dem Text dieser zeitnahen Quellen weist dagegen die Version der Rede auf, die Scheidemann nachträglich, am 9. Januar 1920, auf Schallplatte sprach und 1928 in seinen Memoiren wiedergab. Dieser Text Scheidemanns wurde lange für authentisch gehalten, bis der Historiker Manfred Jessen-Klingenberg 1968 in einer quellenkritischen Analyse die Verlässlichkeit Friedeggs anonym veröffentlichten stenographischen Aufzeichnungen plausibel nachweisen konnte. Jessen-Klingenbergs Schluss lautete entsprechend, Scheidemann habe „eine selbstverfaßte Fälschung seiner Rede überliefert. Freilich hatte er dafür verständliche persönliche und politische Gründe […].“

Nachmittags gegen 16 Uhr proklamierte Karl Liebknecht, Anhänger des Spartakusbundes, im Lustgarten vor dem Berliner Stadtschloss die „freie sozialistische Republik Deutschland“. Er sprach auf einem Lastwagen stehend über Lautsprecher: „Der Tag der Revolution ist gekommen. Wir haben den Frieden erzwungen. Der Friede ist in diesem Augenblick geschlossen. Das Alte ist nicht mehr. Die Herrschaft der Hohenzollern, die in diesem Schloß jahrhundertelang gewohnt haben, ist vorüber. In dieser Stunde proklamieren wir die freie sozialistische Republik Deutschland. Wir grüßen unsere russischen Brüder, die vor vier Tagen schmählich davongejagt worden sind. […] Durch dieses Tor wird die neue sozialistische Freiheit der Arbeiter und Soldaten einziehen. Wir wollen an der Stelle, wo die Kaiserstandarte wehte, die rote Fahne der freien Republik Deutschland hissen!“ Nach der Erstürmung des Schlosses sprach Liebknecht vom Balkon des Portals V ein weiteres Mal. Diese Rede wurde in der Vossischen Zeitung folgendermaßen wiedergegeben: „‚Parteigenossen, […] der Tag der Freiheit ist angebrochen. Nie wieder wird ein Hohenzoller diesen Platz betreten. Vor 70 Jahren stand hier am selben Ort Friedrich Wilhelm IV. und mußte vor dem Zug der auf den Barrikaden Berlins für die Sache der Freiheit Gefallenen, vor den fünfzig blutüberströmten Leichnamen seine Mütze abnehmen. Ein anderer Zug bewegt sich heute hier vorüber. Es sind die Geister der Millionen, die für die heilige Sache des Proletariats ihr Leben gelassen haben. Mit zerspaltenem Schädel, in Blut gebadet wanken diese Opfer der Gewaltherrschaft vorüber, und ihnen folgen die Geister von Millionen von Frauen und Kindern, die für die Sache des Proletariats in Kummer und Elend verkommen sind. Und Abermillionen von Blutopfern dieses Weltkrieges ziehen ihnen nach. Heute steht eine unübersehbare Menge begeisterter Proletarier an demselben Ort, um der neuen Freiheit zu huldigen. Parteigenossen, ich proklamiere die freie sozialistische Republik Deutschland, die alle Stämme umfassen soll, in der es keine Knechte mehr geben wird, in der jeder ehrliche Arbeiter den ehrlichen Lohn seiner Arbeit finden wird. Die Herrschaft des Kapitalismus, der Europa in ein Leichenfeld verwandelt hat, ist gebrochen. Wir rufen unsere russischen Brüder zurück. Sie haben bei ihrem Abschied zu uns gesagt: ‚Habt Ihr in einem Monat nicht das erreicht, was wir erreicht haben, so wenden wir uns von Euch ab.‘ Und nun hat es kaum vier Tage gedauert. Wenn auch das Alte niedergerissen ist […], dürfen wir doch nicht glauben, daß unsere Aufgabe getan sei. Wir müssen alle Kräfte anspannen, um die Regierung der Arbeiter und Soldaten aufzubauen und eine neue staatliche Ordnung des Proletariats zu schaffen, eine Ordnung des Friedens, des Glücks und der Freiheit unserer deutschen Brüder und unserer Brüder in der ganzen Welt. Wir reichen ihnen die Hände und rufen sie zur Vollendung der Weltrevolution auf. Wer von euch die freie sozialistische Republik Deutschland und die Weltrevolution erfüllt sehen will, erhebe seine Hand zum Schwur‘ (alle Hände erheben sich und Rufe ertönen: Hoch die Republik!). Nachdem der Beifall verrauscht war, ruft ein neben Liebknecht stehender Soldat […]: ‚Hoch lebe ihr erster Präsident Liebknecht!‘ Liebknecht schloß: ‚Soweit sind wir noch nicht. Ob Präsident oder nicht, wir müssen alle zusammenstehen, um das Ideal der Republik zu verwirklichen. Hoch die Freiheit und das Glück und der Frieden!‘“